„Jetzt ist wohl ein Engel fällig, der ein Grab für die unschönen Erinnerungen gräbt. Ich werde ihn demnächst zeichnerisch ins Leben rufen, um endlich selbst zur Ruhe zu kommen“, schreibt Silke Kowalski per E-Mail nach einem intensiven und emotionalen Gespräch in ihrem Zuhause in Strachau, einem kleinen Dorf links der Elbe in der Gemeinde Amt Neuhaus – ihr Zuhause seit 56 Jahren. Sichtlich bewegt erzählt sie von ihrem Leben zwischen Kunst und LPG, zwischen Freiheit und DDR, zwischen Stacheldrahtzaun und einem grenzenlosen Sternenhimmel an der Elbe.
Künstlerin wollte sie schon immer werden, doch um ihrer Mutter in der Landwirtschaft helfen zu können, lernte sie Friseuse. Ihr Mann war Lehrer. Die angebotene Wohnung in Tripkau im Amt Neuhaus gefiel dem jungen Paar nicht. „Dann müsst ihr an die Elbe“, hieß es. „Wir waren naturverbunden und verguckten uns sofort in das leerstehende Backsteinhaus hinter dem Deich, auch wenn es kein fließendes Wasser im Haus gab.“ 1963 lag Strachau schon im Sperrbezirk, aber es war alles noch nicht so streng, erzählt Silke Kowalski. „Es war auch noch möglich, zur Elbe zu gehen, auch wenn man das nicht sollte.“ Damit war 1974 Schluss. „Als uns der Zaun vor die Nase gesetzt wurde, schlossen wir mit der DDR ab. Wir sahen ihn nicht als Schutzwall, sondern als Hindernis für uns.“ Sie erzählt von der damals zehnjährigen Tochter, die einen Zettel an den Zaun heftete „Der Zaun muss weg.“ Die Familie versuchte wegzuziehen. „Mein Mann hätte eine andere Stelle bekommen können, aber es war für eine Familie mit drei Kindern unmöglich, eine Wohnung zu finden.“ Also blieben die Kowalskis.
Silke Kowalski übernahm die Poststelle im Ort, später arbeitete sie elf Jahre bis 1987 als Melkerin in der LPG. Zum Lesen blieb in dieser Zeit aufgrund Familie, eines großen Selbstversorgergartens und Arbeit wenig Zeit. „Ich begann Gedichte zu lesen. Die kann man schnell lesen und lange darüber nachdenken.“ Auch für die Kunst reichte die Zeit nie. Ich hatte ständig ein schlechtes Gewissen, weil ich etwas vernachlässigen musste. „Das ist für die Gesundheit nicht gut. Außerdem kann man Kunst nicht halb machen.“
Über mehrere Jahre genoss sie neben Beruf und Familie eine grundlegende künstlerische Ausbildung bei der Spezialschule für Malerei und Grafik in Schwerin. „Es waren hohe Anforderungen und ich musste viel lernen, aber ich bin dankbar, dass ich diese Ausbildung machen konnte. “ Dadurch bekam sie Gelegenheit, in Schwerin auszustellen. Sie arbeitete weiter in der LPG und malte zu Hause schwere, dunkle Bilder. „Es schwärzt sich zu“, begann man ihre Arbeiten Mitte der 80er Jahre zu kritisieren. „Aber so ist es doch“, war ihre Antwort. Sie zeigt drei Hamlet-Bilder – düstere, dunkle, kantige Köpfe mit Pinsel und Tusche gearbeitet. Der „Verletzte,“, der „Aufsässige“ sowie „Sein oder Nichtsein“ bezeichnet Silke Kowalski die drei Werke und zitiert dabei Shakespeare: „Es ist was faul im Staat Dänemark.“ Diese Bilder wurden bei einer Ausstellung abgelehnt. „Aber da wusste ich, dass die Botschaften verstanden wurden. Sie waren kurz davor, mich unschädlich zu machen.“ Eines Tages seien Herren gekommen, die mein Atelier und meine Arbeiten sehen wollten. „So arbeiten nur Kriminelle oder geistig Kranke“, zitiert sie den ungebetenen Besuch von damals. „Ich war fertig und konnte nicht antworten.“ Ihr Mann rettete die Situation mit den Worten: „Streicht doch die Mauer rosa, dann malt meine Frau auch wieder bunt.“ Silke Kowalski blättert weiter in ihrer Mappe und zeigt Bilder wie „Deutschlands Engel sucht ein Grab für den Hass“ oder „Klagender Vogel und weinender Engel“.
Die Schaffenskraft der Künstlerin ist immens. Die Werkstatt ist voll von Arbeiten. Sie zeigt dicke Mappen mit Auszügen aus ihren Werken. Oft gibt es Verknüpfungen zwischen Literatur bzw. literarischen Figuren und ihren Werken. Und immer wieder gibt es Engel – wütend, hoffungsvoll, enttäuscht, fragend, verletzt… Engel als Botschafter der eigenen Seele.
Nach der Grenzöffnung findet Kowalski ihre Farbe langsam wieder. „Als der Zaun weg war, musste ich mich wieder langsam an Farbe herantasten.“ Heute hängen farbenfrohe Bilder in ihrem Wohnzimmer und im Atelier. Sie zeigt aber eher die Bilder aus der dunklen Zeit. Während der Zeit hinter dem Zaun gab es auch hoffnungsvolle Momente, die sie künstlerisch verarbeitete. Auf der Staffelei steht ein Bild von 1979, das ein tanzendes Mädchen zeigt, während der Mond zum Fenster hineinscheint. „Das ist meine Tochter. Das Bild zeigt, dass wir in der Familie schon immer grenzenlos dachten.“ Ihr Mann brachte manchmal das Fernrohr aus der Schule mit, damit die Familie zusammen den Sternenhimmel beobachten konnte.
Silke Kowalski hat die Farbe wieder gefunden, „aber ich habe nicht meinen kritischen Blick verloren“. Dazu gehört zum Beispiel „das unselige Hochschaukeln der Diskussion um Ost und West“. „Es spielt doch keine Rolle, woher jemand kommt. Es zählt allein der Mensch.“ Pragmatisch, wie sie immer veranlagt war und ihr Leben gemeistert hat, fragt die 76-Jährige: „Warum geht man nicht aufeinander zu, setzt sich zusammen und sucht nach Lösungen? Es könnte so einfach sein.“
1992 wurde Silke Kowalski in den Künstlerbund Mecklenburg-Vorpommern aufgenommen. Künstlerin war sie zwar schon immer, aber seitdem ist Künstlerin ihr Beruf. Wenn sie auch in Zukunft die innere Freiheit hat, ihre Gedanken und das, was sie bewegt, künstlerisch auszudrücken, wird es noch viele spannende Arbeiten geben. Vielleicht ja auch ein geflügelter Bote, der die Schwere der belastenden Erinnerungen leichter ertragen lässt.