Durch eine Erinnerungslandschaft in der Altmark

Dietmar Wilhelm von der Stiftung Umwelt, Natur- und Klimaschutz des Landes Sachsen-Anhalt ist zuständig für die stiftungseigenen Flächen im Grünen Band in den Landkreisen Salzwedel und Stendal. Von den etwa 4800 Hektar Grünes Band Sachsen-Anhalt gehören etwa ein Drittel der Stiftung. Der studierte Landwirt sucht regelmäßig das Gespräch mit den Menschen vor Ort. „Ich sitze an meinem Schreibtisch in Magdeburg und bin auf das Wissen, die Netzwerke und die Erfahrungen der Menschen vor Ort angewiesen.“ Deshalb ist es für ihn wichtig, diese Menschen kennenzulernen und Vertrauen aufzubauen. Er hat sich einen Tag Zeit genommen, um gemeinsam mit Jürgen Starck und Ralph Georgi die etwa 30 Kilometer Grünes Band von Lübbow bei Salzwedel bis zur Wirler Spitze bei Ziemendorf kennenzulernen – mit dem Fahrrad auf dem Kolonnenweg. Ralph Georgi ist in der Rhön und in der Altmark am Grünen Band engagiert. Jürgen Starck ist hier zu Hause und kümmert sich seit 2001 in Eigeninitiative, aber in Absprache mit dem Bund für Umwelt- und Naturschutz (BUND) um das Grüne Band. Er hat etwa 50 Kilometer zu einer Erinnerungslandschaft gestaltet. Überall gibt es kleine Hinweisschilder in einheitlichem Design, damit Menschen nachvollziehen können, wie die Grenze aufgebaut war. Mit Zeitzeugen hat er recherchiert, wo die verschiedenen Beobachtungstürme standen. Er hat sechs der DDR-Grenzsäulen nachbauen und am Originalplatz aufstellen lassen. „Sechs Tote durch Fluchtversuche gab es in dem Bereich, den ich betreue“, berichtet er. Ihre Geschichten hat er anhand von Unterlagen und mithilfe von Zeitzeugen recherchiert und an den betreffenden Orten dokumentiert. Starck hat auch den Blick für das Kleine, scheinbar Nebensächliche: Ein Apfelbaum direkt neben dem Kolonnenweg. Er geht davon aus, dass ein Grenzsoldat den Rest eines Apfels weggeworfen hat und der Samen aufging.

 

Die tragische Geschichte eines Dorfes

Bewegend ist auf dieser Tour die Geschichte des geschliffenen Ortes Jahrsau. 1946 hatte das Rundlingsdorf mit vier großen landwirtschaftlichen Anwesen 39 Einwohner, die sich auf die Bauernfamilien sowie Flüchtlinge aus Ostpreußen und Schlesien verteilten. Doch dieser Ort lag zu nah an der Grenze zum Westen im „Jahrsauer Sack“, einer Ausbuchtung der Landesgrenze Sachsen-Anhalts. Eine Familie floh vor Grenzschließung in den Westen. Ab 1952 wurden die Einwohner des Dorfes, das im 500 Meter Schutzstreifen lag, zwangsumgesiedelt. 1970 wurden die Gebäude und die Kapelle abgerissen und dem Erdboden gleichgemacht. Die Glocke der Dorfkapelle läutet heute noch in einem Nachbardorf. Jürgen Starck hat sich intensiv mit dem Dorf befasst. Wir sitzen auf dem Kopfsteinpflaster der ehemaligen Dorfstraße und Starck zeigt Fotos aus Jahrsau, die vor dem Krieg aufgenommen wurden. Er hat sie von einer Zeitzeugin bekommen, die in Jahrsau lebte. Die Fotos zeigen eine Hochzeitsgesellschaft einer Jahrsauer Familie, große Bauernhäuser, den Dorfplatz und vieles mehr. Ein Gruppenfoto zeigt alle Kinder aus Jahrsau. Starck hat einen kleinen Erinnerungspfad eingerichtet. Ein Trampelpfad im Wald führt zu Schildern, die zeigen, wo die Bauernhöfe standen und die Namen der Familien, die in den Häusern wohnten. Überall liegen Relikte, die an die Bewohner erinnern. Auf einer Mauereinfassung, die wahrscheinlich einen Misthaufen begrenzte, legen Besucher ab, was sie im Wald finden: Türschlösser, Stromverteiler, Sensenblatt, Gummistiefelreste, Gläser, Konservendosen, Porzellanstücke. Bei den Sammelstücken vermischt sich die Geschichte der Jahrsauer mit der Geschichte der Grenzsoldaten. Der Rundgang durch das ehemalige Dorf ist wie ein Gang durch ein Museum, das sich die Natur zurückholt und das direkt mit den Schicksalen der Menschen verbunden ist, für die es einst Heimat war. Archäologen könnten hier viel entdecken. Wir gehen über den ehemaligen Futtergang eines Stalles. Starck zeigt Überreste eines Terrazzobodens, der oft in Küche und Flur verlegt wurde. Ein Stuhl aus einem Bauernhaus ist auseinandergefallen. Starck richtet ihn wieder auf.

 

Binnendüne und Heidelandschaft an der Wirler Spitze

Ein paar Kilometer weiter an der Wirler Spitze, nördlich des Arendsees, war die Grenze genauso brutal. Aber hier ist etwas entstanden, das einem kleinen Paradies gleicht. Auf den sandigen Böden erstrecken sich ausgedehnte, dichte Kiefernwälder. Aber das Grüne Band ist hier bis zur Spitze freigehalten und komplett mit Heide bedeckt. Auch im Oktober schimmert das Band noch ein wenig violett in der Abendsonne. Direkt an der Spitze erhebt sich eine Binnendüne, die während der Eiszeit entstand. Doch dieser Abschnitt des Grünen Bandes ist nicht nur eine Augenweide, sondern viele Tier- und Pflanzenarten lieben diese halboffenen Landschaften, erklärt Dietmar Wilhelm. Die Stiftung besitzt Flächen direkt im Anschluss an die Wirler Spitze. Noch sind sie dicht von Kiefern bewachsen, die sich vor 30 Jahren nach der Grenzöffnung angesiedelt haben. „Diese Kiefern werden in den nächsten Wochen gefällt“, so Wilhelm. Danach wird sich wieder das Heidekraut breitflächig etablieren. „Dieser Streifen mit einer Länge von etwa einem Kilometer wird sich von einem Kiefernwald mit geringer Artenvielfalt zu einem Areal mit hoher Artenvielfalt entwickeln. Es werden sich unter anderem wärmeliebende Tiere ansiedeln“, so die Prognose. Dazu gehören Schlingnatter, Zauneidechse, Libellen, Ziegenmelker, Heidelerche und viele heimische Singvögel, die den Wechsel von offenen Flächen und Wald mögen. Wilhelm räumt ein, dass diese Flächen in Zukunft dann auch gepflegt werden müssen, damit sich die Kiefer nicht wieder durchsetzt. Starck denkt darüber nach, es mit Schülergruppen oder mit Ehrenamtlichen zu pflegen. Hier ist wieder die Vernetzung zwischen Stiftung und den Netzwerken vor Ort wichtig.

Aus dem Engagement von Jürgen Starck in der Altmark und Ralph Georgi in der Rhön entstand eine Privatinitiative. „Wir wollen so viel bewegen, gelten aber immer als Exoten, da wir in keine Strukturen passen“, erklärt Georgi. Jeder ist in seiner Region am Grünen Band unterwegs. Doch dazwischen sind noch ein paar Hundert Kilometer. Sie hoffen, dass es dort ähnliche Initiativen gibt, damit sie sich vernetzen können.