Ein Leben mit und von Büchern

„Es kommen so viele Journalisten in meinen Laden und immer wieder gebe ich Interviews“, mit diesen Worten führt die 96-jährige Helga Weyhe in ihr Kontor. Sie setzt sich auf einen bequemen Bürostuhl vor ihren Schreibtisch, auf dem sich Bücher und Papiere stapeln. Mit wachem Blick und Geist beantwortet die Buchhändlerin jede Frage. Seit 1945 arbeitet sie in der Buchhandlung in Salzwedel, der Kreisstadt des Altmarkkreises in Sachsen-Anhalt. Ihr Großvater übernahm 1880 die Buchhandlung, kaufte das Haus und baute den Laden um. „Es ist alles noch von 1880“, blickt sie stolz um sich. Ihr Vater übernahm das Geschäft 1929. Seit 1945 arbeitet sie in der Buchhandlung, die sie 1965 übernommen hat. Und noch immer steht sie an sechs Tagen in der Woche in ihrem Geschäft. „So lange ich hier gerade stehen kann, führe ich den Laden weiter“, so die 96-Jährige. „Die Buchhandlung ist mein Leben. “ Und ihr Motto: „Lesen, lesen, lesen.“

Der Laden hatte in all den Jahrzehnten immer auf und wurde immer privat geführt, auch während des Krieges und während der DDR-Zeit. „Das war nicht einfach“, blickt Helga Weyhe zurück. „Wir waren ja seit 1933 von der Weltliteratur abgeschnitten. Da gab es zum Beispiel keinen Thomas Mann.“ Das Geschäft machten die Weyhes in dieser Zeit in erster Linie mit Fachbüchern und Noten. „Im Bücherschrank hatten wir alles an Literatur, was man sich vorstellen kann. Wir durften es nur nicht verleihen oder gar verkaufen.“ Auch in der DDR gab es laut Weyhe interessante Literatur. Allerdings trauten sich Lehrer nicht, in den privaten Buchhandlungen einzukaufen und gingen deshalb in die Volksbuchhandlungen.

Helga Weyhe führt ihren Laden sehr persönlich. Sie bestimmt, was in ihrem Laden liegt. Natürlich erfüllt sie über den Großhandel auch alle anderen Kundenwünsche von einem Tag auf den anderen. „Man kennt seine Kunden und kann sie dementsprechend beraten. Und Kunden, die man nicht kennt, lernt man mit ein paar Fragen schnell kennen.“ Es sei wichtig, sich auf seine Kunden einzustellen. „Die einen wollen beraten werden und andere wollen in Ruhe schauen.“ Die Bücher, die sie in ihrem Laden hat, kennt sie alle. Sie bedauert, dass sie immer noch nicht die Zeit habe, Bücher komplett zu lesen. „Aber ich weiß, worum es geht.“

Über Neuerscheinungen informiert sie sich mit dem „Börsenblatt – Wochenmagazin für den deutschen Buchhandel“ und den Katalogen der Verlage. „Auch von den Kunden erfahre ich, was es für interessante Sachen gibt. Ich lerne überhaupt viel von meinen Kunden. Mir fehlen ja immer noch 40 Jahre Literatur“, so Weyhe, die nie eine Ausbildung zur Buchhändlerin gemacht hat, dafür ab 1941 in Breslau, Königsberg und Wien Geschichte und Literatur studierte.

Ganz wichtig sind für Helga Weyhe Kinderbücher. „Diese darf man im Buchhandel nicht vergessen“, spricht sie aus Erfahrung. Sie zeigt „Stoffel fliegt übers Meer“, das erste von sieben Kinderbüchern von Erika Mann von 1932. „Ich habe es mit zehn Jahren geschenkt bekommen. Jetzt hat ein Verlag eine Neuausgabe herausgebracht, die sich weitgehend am Original orientiert. „Ich habe schon ein paar Hundert davon verkauft.“ Ein Blick auf die Uhr erinnert sie daran, dass es Zeit ist, Bücher zu bestellen. Sie geht an ihren Computer in ihrem Kontor, bedient die Tastatur mit einem Finger und bestellt zehn Mal den Stoffel. „Den muss ich immer vorrätig haben.“

Helga Weyhe hatte immer Sehnsucht, die Welt und ihre Kulturen zu entdecken. Allerdings war es erst durch Nazidiktatur und Krieg und dann durch Russen und DDR schwierig. In den 50er Jahren gelang es ihr allerdings, mehrmals nach Italien zu reisen. Sie verbrachte einige Monate in Rom. Nach Amerika konnte sie erst 1985 als Rentnerin reisen. Sie besuchte den Laden ihres Onkels Erhard Weyhe, der in der Lexington Avenue in New York einen Kunstbuchhandel und Verlag führte. Das Straßenschild hängt in ihrem Laden.

Ihre Kundschaft beschreibt sie als sehr gemischt. Es gibt viele Stammkunden, die immer wieder kommen, auch von weit her. „Von Boston bis Bangkok“, ergänzt sie verschmitzt. Es gibt aber auch Menschen, die von ihr hören und lesen, und diese historische Buchhandlung mit den ausgeblichenen Büchern im Schaufenster und dem antiquierten Charme kennenlernen wollen. Sie wollen aber vor allem Helga Weyhe erleben und sich von ihr beraten lassen. Aktuell liegt „Eskimoland“ von Niko Tinbergen ganz oben auf ihrem Lesestapel.