Von der Grenzkohle zum grenzenlosen See

Dort wo einst grenzüberschreitend Kohle abgebaut würde, entsteht heute ein grenzenloser See. Durch den Tagebau zwischen Helmstedt (Niedersachsen) und Harbke (Sachsen-Anhalt) zog sich einst die innerdeutsche Grenze.

Kohle wird in dieser Region seit dem 18. Jahrhundert abgebaut. Im großen Stil begann die Kohleförderung 1873 mit der Gründung der Braunschweigischen Kohlenbergwerke (BKB). Nach 1945 baute die BKB unter sowjetischer und britischer Kontrolle Kohle ab und produzierte im Kraftwerk Harbke Strom für Ost und West. Die Mitarbeiter der BKB aus der BRD und der DDR durften die Zonengrenze und später die Staatsgrenze täglich überschreiten, um ihrer Arbeit nachzugehen. Aber im Mai 1952 wurde die Grenze von einem Tag auf den anderen abgeriegelt, die Belegschaft konnte nicht mehr zu ihren Arbeitsstätten, die BKB verlor einen Teil ihrer Kohlefelder und ihrer Geräte. In den folgenden Jahren baute man in Ost und West getrennt Kohle ab. Entsprechend des Verlaufes der innerdeutschen Grenze entstand der sogenannte Grenzkohlepfeiler. Nach Verhandlungen zwischen beiden deutschen Staaten als Folge der Entspannungspolitik konnte ab 1976 die Kohle des Grenzkohlepfeilers abgebaut werden. Rainer Polk, der seit 1968 bei der BKB arbeitete, erinnert sich: „Bevor der Grenzkohlepfeiler abgebaut werden konnte, mussten auf DDR-Seite erst einmal die Minen geräumt werden.“ Rückblickend bezeichnet Polk, ab 2005 stellvertretender Betriebsratsvorsitzender, dies als ersten Schritt auf dem langen Weg hin zur Grenzöffnung. „Die Staatsgrenze im Tagebau war dann nur noch ein Maschendrahtzaun, der je nach Abbaufortschritt verschoben wurde.“ Im Bereich Harbke baute man bis 1986, im Bereich Helmstedt bis 2002 Kohle ab. Statt des Grenzkohlepfeilers errichtete die DDR einen Damm, um die Grenze im Tagebau wieder zu schließen.

Heute 30 Jahre nach der Grenzöffnung und 17 Jahre nachdem die letzte Kohle aus dem Tagebau geholt wurde, stehen Henning Konrad Otto aus Helmstedt und Werner Müller aus Harbke gemeinsam am Lappwaldsee und entwickeln Visionen, wie das ehemalige Tagebauloch in Zukunft touristisch genutzt werden könnte. Otto ist Geschäftsführer und Müller ist stellvertretender Vorsitzende des Planungsverbandes Lappwaldsee, der vor einigen Monaten gegründet wurde. „Das ist jetzt der offizielle Rahmen“, so Müller. „Die Zusammenarbeit besteht schon viel länger.“ Der Abstimmungsbedarf für dieses Großprojekt ist riesig, denn es sind zwei Kommunen, zwei Bundesländer mit ihren jeweiligen Regionalplanungen und zwei Bergbauunternehmen als Grundeigentümer der ehemaligen Bergbauflächen beteiligt.

Im Moment füllt sich der See mit Grundwasser und zusätzlich mit Wasser aus Tiefenbrunnen des ehemaligen Kraftwerkes Buschhaus. 2032 soll er nach derzeitigen Berechnungen eine Höhe von 103 Meter über Normalhöhennull haben. „Diese Zahl ist schon länger bekannt“, erläutert Otto. Dass die Wasseroberfläche des Sees damit dauerhaft künstlich 15 Meter unter der Oberkante des Tagebauloches gehalten werden soll, sei indessen erst seit zwei Jahren allgemein bekannt.

„Das Wasser darf nicht bis zur Oberkante steigen, da die Böschung am Nordufer dafür nicht profiliert worden ist“, erklärt Otto. Für eine Korrektur sei es jetzt zu spät, da das Wasser bereits zu stark angestiegen ist. Die Nachteile liegen auf der Hand: Der See wird kleiner als angenommen und man wird auf Ewigkeit Wasser abpumpen müssen, damit der Grundwasserspiegel nicht bis zur endgültigen Höhe steigen kann. Das abgepumpte Wasser soll über den historischen Mühlbach über Harbke in das Feuchtgebiet Großes Bruch geleitet werden. „Das wäre nicht notwendig, wenn der See den natürlichen Grundwasserspiegel erreichen dürfte.“ Deshalb wird es nach derzeitigen Planungen zwei Wege um den See geben müssen, einen Panoramaweg und einen Uferweg nahe der Wasserkante. „Dazwischen wird viel Raum für Naturschutzflächen entstehen“, versuchen die beiden der Situation etwas Positives abzugewinnen. Nach der vollständigen Flutung soll der Lappwaldsee eine Uferlänge von rund elf Kilometern haben. Mit einer prognostizierten Fläche von 419 Hektar wird er fast so groß sein wie der Arendsee bei Salzwedel.

Otto und Müller sehen es als ihre Aufgabe als Vertreter des Planungsverbandes an, die Entwicklungen für den See auch jetzt schon voranzutreiben, auch wenn das Gebiet noch unter Bergbaurecht steht. „Wenn wir das Areal sich selbst überlassen, entsteht hier nur eine große Pfütze ohne Mehrwert“, so Otto. „Der See soll die ganze Region aufwerten“, ergänzt Müller. Otto räumt ein, dass es nicht möglich sei, die ursprüngliche Landschaft und die verschwundenen Dörfer wiederherzustellen. „Aber man kann verlangen, dass die Menschen, die hier leben, eine attraktive Landschaft zurückbekommen“, appelliert er an die Verantwortung der zuständigen Bergbauunternehmen in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, die Narben des Bergbaus zu schließen.

Otto sieht in der Ausweisung des Grünen Bandes als Nationales Naturmonument eine große Chance für die Entwicklung des Lappwaldsees und für die Region. „Wir haben hier eine enorme Dichte an Zeugnissen der Deutschen Teilung und den einzigen Tagebau der grenzübergreifend Kohle gefördert hat“, unterstreicht Otto die Bedeutung des Grünen Bandes in der Region. Der Verlauf der ehemaligen Grenze quer durch den See soll nach Vorstellung der beiden Männer auf jeden Fall sichtbar gemacht werden. Vielleicht kann die ehemalige Grenze über dem Grenzkohlepfeiler sogar begehbar gemacht werden.

Die Menschen in Helmstedt und Harbke müssen viel Geduld aufbringen, bis sie „ihren“ See grenzenlos nutzen können. Laut Planungen soll der See 2032 seine endgültige Höhe erreicht haben. Schon jetzt ist der See, der bereits zu einem Drittel gefüllt ist, ein beliebtes Ausflugsziel für Radfahrer und Spaziergänger, auch wenn es neben Informationstafeln und einer Grillhütte kaum Infrastruktur gibt. „Wir wollen jetzt schon mit Veranstaltungen Menschen an den See locken“, blickt Müller in die Zukunft. Otto spricht von „Lappwaldsee-Erlebnistagen“, die regelmäßig an unterschiedlichen Stellen am Ufer des Gewässers stattfinden könnten. Ziel sei es, jetzt schon Menschen aus der Region und von weiter her für den Lappwaldsee zu begeistern.

Bald könnte es auch die Möglichkeit geben, direkt am Tagebausee zu übernachten: Die Stadt möchte schon im nächsten Jahr ein mobiles Hotel am See aufstellen. „Das Hotel auf Basis eines Seecontainers wäre hinsichtlich Energie, Wasser und Abwasser völlig autark, so dass keine Anschlüsse benötigt werden.“ Wenn es klappt, können Gäste online buchen und bezahlen. Über eine App öffnet sich der Container mit Seeblick und Platz für bis zu vier Personen.