Gewissenskonflikte eines katholischen Grenzbeamten

Lothar Wandt hatte schon als 13-Jähriger seine ersten Grenzerfahrungen. Es war das Jahr 1970. Er lebte im thüringischen Brehme im Eichsfeld im Fünf-Kilometer-Sperrgebiet bei Duderstadt. „Ich war neugierig und löste einen Grenzalarm aus“, erinnert sich Wandt. Aber er konnte bei den Verhören glaubhaft versichern, dass er keine Fluchtabsichten hatte. „Hatte ich auch wirklich nicht“, unterstreicht er heute. „Ich habe erzählt, dass ich Himbeeren pflücken wollte.“ Der Vorfall hatte keine weiteren Konsequenzen, er wurde lediglich in der Schule gemeldet. „Vor den Ferien gab es für Schüler im Sperrgebiet immer Belehrungen, dass man auf keinen Fall zu nah an die Grenze kommen sollte.“ Wandt wusste das bereits.

Nach der Schule machte er eine Ausbildung in seinem Wunschberuf: Forst- bzw. Waldarbeiter. Doch sein Ziel war es, zu studieren, um Forstingenieur zu werden. Schnell war klar, dieser Wunsch würde nur in Erfüllung gehen, wenn er nicht nur die üblichen eineinhalb Jahre Wehrdienst ableisten würde, sondern er musste sich für drei Jahre verpflichten. Das machte er, allerdings wollte er zu den Grenztruppen.

„Als Forstarbeiter hatte ich viel mit Grenzbeamten zu tun. Ich dachte, da hätte ich einen ruhigen Job“, erinnert sich der heute 62-Jährige. Außerdem wollte er nah an zu Hause bleiben, um seine Mutter zu unterstützen, da sein Vater verstorben war. „Das war etwas naiv von mir, so zu denken.“ „Was auf mich zukommen würde, habe ich erst in der Kaserne erfahren“, so Wandt, der von 1977 bis 1980 als Grenzbeamter diente. Er hörte von Mördern und Kriminellen, die aus der DDR fliehen wollten und im Westen frei gesprochen werden. Das schlimmste war für uns, wenn wir hörten, dass sowjetische Soldaten mit ihren Kalaschnikows auf der Flucht in den Westen seien. „Die Fahndungen wurden in den Grenzkasernen regelmäßig verlesen. Es hieß, dass russische Soldaten sofort schießen würden.“ Wandt beschreibt seine drei Jahre Dienst als Grenzbeamter als „meistens ruhig, aber manchmal auch nervlich sehr belastend“ – vor allem die Nachtschichten. „Wir hatten immer Angst, dass Russen fliehen könnten und auf uns schießen würden.“  Seine Aufgabe sei es gewesen, die Posten entlang eines Grenzabschnittes zu kontrollieren, ob sie ihre Aufgabe ordentlich machten. Er erzählt, dass man die „Parole“ immer parat haben musste, um von den Kollegen erkannt zu werden. „Da konnte man nicht lange überlegen, sonst hätte der andere vielleicht geschossen“, beschreibt er seine Angst von damals.

„Ich habe während meiner Zeit als Grenzbeamter keine schlimmen Situationen erlebt, ich wurde weder angegriffen, noch musste ich schießen.“ Aber den Schießbefehl auf Flüchtlinge gab es. „Die Anweisung lautete: Erst ansprechen, Luftschuss, dann Schuss in die Beine, um die Person festnehmen zu können.“ 

„Als Grenzbeamter machte ich mir immer Gedanken, was ich machen würde, wenn ich schießen muss“, erzählt Wandt. „Ich hätte nicht geschossen“, sagt er heute. „Ich war als Eichsfelder katholisch und aktiv in der Kirche.“ Er erklärt, dass er sich das alles als junger Mann nicht so richtig überlegt hatte. „Bevor ich mich bei den Grenztruppen meldete, wusste ich nicht, dass ich in solche Situationen kommen könnte. Ich hatte mein Studium vor Augen und das Ziel als Forstingenieur in meiner Heimat zu arbeiten.“

Allerdings habe er sich eine Vorgehensweise überlegt, wie er mit brenzligen Situationen umgehen würde. „Ich hatte beim Schießen nicht immer die besten Noten“, erklärt er. Allerdings habe er bewusst manchmal etwas danebengeschossen. Das wollte er auch tun, wenn er auf einen Menschen hätte schießen müssen – leicht daneben schießen, denn es sei ja bekannt, dass er nicht der beste Schütze sei. Er wiederholt: „Ich hätte nicht geschossen. Das hätte ich mit meinem Glauben nicht vereinbaren können.“ Selbstkritisch gibt er zu, dass er diese Gedanken niemals mit jemanden geteilt hätte – weder mit seinen Vorgesetzten, aber auch nicht mit Vertretern der Kirche oder Familienmitglieder.

Eigentlich glaubte er nicht an die Theorie, die Grenze sei ein antifaschistischer Schutzwall. Aber durch die intensive politische Schulung und Propaganda in der Kaserne habe man es dann doch geglaubt und seinen Dienst ordentlich gemacht.

1980 hatte Wandt die Zeit als Grenzbeamter geschafft und konnte sein Studium antreten. „Die beste Zeit meines Lebens.“ Als Forstingenieur bekam er auch eine Stelle nahe seines Wohnortes Brehme. 1987 musste er einen schweren Schicksalsschlag verkraften: Aufgrund eines Arbeitsunfalls wurde er Unfallrentner. Allerdings bot ihm dieser Status eine neue Freiheit: Er durfte in den Westen reisen und das nutzte er. „Ich fuhr regelmäßig nach Duderstadt und knüpfte viele Kontakte, unter anderem zu Umweltgruppen. Als Forstingenieur war ich schon immer an Umweltschutzthemen sehr interessiert.“ Der Stasi waren diese Reisen und Kontakte ein Dorn im Auge. „Sie setzten mich unter Druck. Ich sollte für die Stasi arbeiten, ansonsten könnte ich Probleme bekommen und eventuell meine Besuche nach Westdeutschland nicht mehr genehmigt werden.“  „Wieder hatte ich Gewissenskonflikte“, beschreibt Wandt seine Gedanken von damals. „Ich war im Kirchenvorstand aktiv und hätte nie für die Stasi arbeiten können.“ Wandt lehnte ab und konnte trotzdem seinen Aktivitäten und Reisen weiter nachgehen.

Nach der Wende startete der Frührentner richtig durch: Er ist Gründungsmitglied der Grünen und des Naturschutzbundes (Nabu) im Eichsfeld. Durch seine Vorwendekontakte ging das alles recht schnell. Die Liste seines ehrenamtlichen Engagements ist lang und reicht vom Ortschronist über Pfadfinder, Eichsfelder Heimatverein, Flüchtlingshilfe bis hin zu Schöffe am Gericht. „Ich war schon immer engagiert, auch zu DDR-Zeiten, und habe schon immer gerne mit Jugendlichen gearbeitet“, erklärt er seinen vielfältigen Einsatz für die Gesellschaft. „Manchmal ist es schon ein bisschen viel“, gibt er bescheiden zu. Von Aufhören oder kürzer treten spricht der 62-Jährige aber nicht. Es scheint wie selbstverständlich zu ihm zugehören.

Das Thema Grenze hat ihn bis heute nicht losgelassen. So macht er als Zeitzeuge Führungen im Grenzlandmuseum Eichsfeld und ist als Wanderführer und Wegewart am Grünen Band unterwegs.