Vom schmucken Dorf auf die Teufelskanzel

Das kleine Dorf Lindewerra liegt direkt an der Werra im thüringischen Eichsfeld. Hübsch renovierte Fachwerkhäuser und üppig blühende Gärten heißen Besucher willkommen. „Es gibt in unserem Ort keinen Leerstand“, so Bürgermeister Gerhard Propf. „Wir haben sogar drei Bauplätze ausgewiesen, zwei sind bebaut, für den letzten gibt es zwei Interessenten“, blickt der Bürgermeister der selbstständigen Gemeinde mit 260 Einwohnern positiv in die Zukunft.

Lindewerra ist beliebt bei Touristen. Hier kann man das alte Handwerk des Stockmachers noch erleben. Außerdem liegt der Ort direkt am Grünen Band und am neu ausgebauten Werratal-Radweg. Es führen mehrere bekannte Wanderwege, unter anderem der Werra-Burgen-Steig, vorbei. Auch mit dem Kanu oder Kajak ist der Ort über die Werra zu erreichen. Ein Wohnmobilstellplatz am Ortsrand wird gut genutzt. Lindewerra ist nicht nur für seine Stöcke bekannt, sondern auch aufgrund des bekannten Musiklabels „Ruf Records“, das seinen Sitz in Lindewerra hat. Der Ort profitiert davon, denn jährlich gibt es Bluesrock-Konzerte mit international bekannten Musikern, die im Gemeindesaal auftreten. „Die Konzerte sind meist ausverkauft“, so Propf.

Um die Gemeinschaft im Ort zu stärken, lädt Propf jährlich alle Bürger von Lindewerra zu einem Neujahrsempfang ein. Es kommen im Durchschnitt 120 Lindewerscher, wie sich die Einwohner des Ortes nennen. „Auch die Jugend ist dabei“, ist Propf stolz. Nach einem kurzen Bericht über die Entwicklungen im Dorf gibt es Essen, Getränke und Musik. „Mir ist es wichtig, dass die Menschen zusammenkommen.“

Gemeinsam gehen wir über den Theodor-Storm-Weg auf die Teufelskanzel, ein riesiger Sandsteinfelsen hoch über dem Werratal mit fantastischer Aussicht auf die Werraschleife. Propf erzählt die Sage, die sich um den Felsen rankt:

In einer Walpurgisnacht, in der sich die Hexen immer auf dem Brocken trafen, brüstete sich der Teufel, dass er es schaffen würde, den gewaltigen Felsen, auf dem er gerade stehe, ohne Rast auf den Hohen Meißner nach Hessen zu tragen. Es kam zur Wette. Der Teufel flog mit dem Felsen in Richtung Hohe Meißner. Doch kurz vor dem Ziel ließen die Kräfte nach, so dass er auf der Bergkette vorher eine Pause im dichten Wald einlegte. Die Hexen wurden misstrauisch und suchten den Teufel mit dem Felsbrocken – er hatte es nicht geschafft. Die Hexen brachen in höhnisches Gelächter aus. Der Teufel wurde so zornig, dass er einen Fußabdruck im Tal hinterließ. An dieser Stelle fließt die Werra in einem großen Bogen in Form eines Hufeisens. Und so bekam dieser gigantische Felsen, von dem aus man den Hohen Meißner sieht, seinen Namen „Teufelskanzel“.

Propf erzählt, dass die Teufelskanzel zu DDR-Zeiten nicht abgesperrt gewesen sei. „Für Lindewerscher war es möglich, hier hoch zu gehen, aber es war nicht erwünscht. Für Menschen aus den umliegenden Dörfern war es sogar verboten, auf den Berg zu gehen.“ Als Jugendlicher sei er öfters hier oben gewesen. Das „Wirtshaus zur Teufelskanzel“ existierte zu dieser Zeit nicht mehr. Offiziere der Grenztruppen bauten das Gebäude zum Feiern wieder auf. Auch Karl-Eduard von Schnitzler, Moderator der DDR-Fernsehsendung „Der schwarze Kanal“ war öfters hier. Einmal durften sogar die Stockmacher aus Lindewerra auf die Teufelskanzel.

Heute ist die Teufelskanzel und die Gaststätte wieder ein beliebtes Ausflugsziel. Die Gaststätte füllt sich an einem Wochentag bei Nieselregen – Wanderer, Radfahrer, Familien, Menschen aller Altersgruppen kehren in der gemütlichen und rustikalen Berghütte ein.

Propf erzählt weiter: Ein Stückchen weiter auf dem Kammweg gibt es den „Ministerblick“, der heute auch Lindewerrablick genannt wird. Von hier aus wurde 1978 im Rahmen der Grenzsicherungsmaßnahmen direkt nach Lindewerra ein neuer Plattenweg gebaut. Das Gelände ist so steil, dass man die Platten nur im geschickten Zusammenspiel von Bagger und Raupenfahrzeug verlegen konnte. 1984 kam der Verteidigungsminister aus Nord Korea auf Einladung des damaligen Verteidigungsministers der DDR Heinz Hoffmann zu Besuch. Der DDR-Minister wollte zeigen, was in Sachen Grenzbefestigung im schwierigen Gelände möglich sei.

Das Grüne Band ist für Gerhard Propf eine Herzensangelegenheit. „Ich finde es wichtig, dass diese Grenze in Erinnerung bleibt. Er erzählt vom Bau des Radweges nach Lindewerra direkt am Rande des Grünen Bandes, dort wo der ehemalige Kolonnenweg verlief. Wir wollten einen Radweg, brauchten aber auch einen Wirtschaftsweg, damit die Landwirte auf ihre Felder kommen. Gefördert wurde allerdings nur ein Radweg mit einer Breite von 2,50 Meter, was für landwirtschaftliche Geräte zu schmal ist. Die Lösung: Wir ließen die eine Spur des alten Plattenweges liegen. Somit können Radfahrer den neuen Weg genießen, der Weg ist breit genug für große Maschinen und wir haben die Erinnerung an die ehemalige Grenze. Propf ist neben seiner beruflichen Tätigkeit als ehrenamtlicher Bürgermeister ständig im Ort präsent. Er ist auch in der Umgebung und am Grünen Band unterwegs. Er zeigt gerne Menschen seine Heimat und erzählt von Lindewerra heute und gestern.

Er erzählt von seinem Vater, der in den 50er Jahren Stöcke, die in Lindewerra gefertigt wurden, heimlich nach Hessen trug. Die Stöcke, die Propf senior in der Nacht nach Hessen schleppte, wurden im Westen verkauft. Mit den Trägerdiensten verdiente sich der junge Mann etwas Geld, um den Lebensunterhalt der Familie zu bestreiten. Für diese nächtlichen Touren musste Propf senior über die Werra. Die sechsbogige Sandsteinbrücke, die Lindewerra und Oberrieden verbanden, sprengten die deutschen Wehrmachtssoldaten 1945 als die Amerikaner anrückten. Nach dem Krieg richteten die Menschen aus Lindewerra eine provisorische Fähre über die Werra ein. 1952 wurden die Fährfahrten über die Werra verboten – mit weitreichenden Konsequenzen: Der Vater konnte keine Stöcke mehr in den Westen tragen und die Felder der Familie in Hessen konnten von Lindewerra aus nicht mehr bewirtschaftet werden.

Zum Glück gab es Verwandtschaft in Hessen, die sich um die Verpachtung des Landes an hessische Bauern kümmerte. Diese legte ein Konto an, auf das das Pachtgeld ging. Einmal im Jahr kaufte die Westverwandtschaft von dem Geld Konsumgüter und schickte Pakete nach Lindewerra. „In den 70er Jahren renovierte meine Familie unser Haus. Von dem angesparten Pachtgeld konnten wir einen Durchlauferhitzer, Buntglassteine und 16 Quadratmeter Fliesen kaufen, die wir in der DDR nicht bekommen hätten“, erzählt Propf. Seit 20 Jahren gibt es dank des Einsatzes einer Bürgerinitiative wieder eine Brücke über die Werra. Das Land in Hessen ist immer noch in Familienbesitz und verpachtet. Doch das Pachtgeld geht jetzt auf das eigene Konto. Die Geschichten scheinen Gerhard Propf nicht auszugehen, doch er muss zur Arbeit und verabschiedet sich.