Von der Euphorie zur Normalität

Eine kleine Gruppe von Zeitzeugen aus Lauchröden und Herleshausen an der Werra sitzt unter dem Walnussbaum im idyllischen Innenhof des denkmalgeschützten Dreiseithof von Reinhard Schneider in Lauchröden. Es kommen nicht mehr so viele, wenn zu solchen Gesprächsrunden eingeladen wird. „Es ist nach 30 Jahren Normalität eingekehrt“, bringt es Helmut Schmidt aus Herleshausen auf den Punkt. Die Menschen haben 30 Jahre nach der Grenzöffnung andere Lebensschwerpunkte, Interessen und Verpflichtungen. “Morgen ist beispielsweise Einschulung. Viele haben Enkel und sind dort gefragt.“ Viele Geschichten der deutsch-deutschen Teilung, dem Leben im Sperrbezirk und an der Grenze, der Wende und der Nachwendezeit sind erzählt und teilweise auch dokumentiert.

Doch was bleibt? „Die Freude“, sagt Helga Gogler aus Herleshausen. „Und vieles ist mittlerweile so normal, dass wir gar nicht mehr darüber reden.“ Von Herleshausen gehen die Kinder selbstverständlich in Gerstungen oder Eisenach zur Schule, das nächste Krankenhaus und die Fachärzte sind für Lauchröder und Herleshäuser in Eisenach – wie auch vor der Teilung. Menschen aus Herleshausen engagieren sich im Karneval in Lauchröden, Kinder aus Lauchröden sind in Sportvereinen oder beim Jugendrotkreuz in Herleshausen, die Feuerwehren aus beiden Gemeinden arbeiten eng zusammen…

Dass es nach der Wende nicht gelang, Lauchröden an die Kläranlage in Herleshausen anzuschließen, bedauern Helmut Schmidt und Reinhard Schneider heute noch. „Man hätte den Kanal nur unter der Werra durchlegen müssen. Jetzt wird das Abwasser aufwändig in das viel weiter entfernte Gerstungen gepumpt“, erklärt Reinhard Schneider kopfschüttelnd.

Die Ruine Brandenburg oberhalb von Lauchröden und gegenüber von Herleshausen verbindet die beiden Orte. Schon vor der Wende gab es die ersten gemeinsamen Anstrengungen dieses Wahrzeichen des mittleren Werratales vor dem Verfall zu retten. Mittlerweile ist sie Ruine saniert und gehört zu Herleshausen und Lauchröden.

Am 23. Dezember 1989 besuchten sich die Menschen aus beiden Ortschaften erstmals über eine provisorische Fußgängerbrücke gegenseitig. Es gab ein riesiges Fest. „Wir haben uns damals versprochen, dass wir jedes Jahr diesen Tag mit einem gemeinsamen Brückenfest feiern“, erzählt Helga Gogler. „Und das machen wir auch.“ Es gibt Bratwurst und Glühwein und die Brandenburgmusikanten aus Lauchröden sorgen für Unterhaltung. „Und dann gab es 1989 eine grenzübergreifende Silvesterparty“, schwärmt Helmut Schmidt. Die Euphorie war so groß, dass eine Gruppe nachts auf die Brandenburg ging und mithilfe eines Notstromaggregates einen Turm der Brandenburg beleuchtete. „Solche Erlebnisse mit so großer Symbolkraft vergisst man nicht.“

Helmut Schmidt erwähnt die vielen Freundschaften, die zwischen den beiden Ortschaften nach der Wende entstanden sind. „Wir haben viel gemeinsam gefeiert und vieles gemeinsam geschafft.“ Er erwähnt auch die vielen Hilfestellungen und Beratungen, die man den Menschen in Lauchröden in der Anfangszeit gegeben habe, um sich in dem neuen System zurechtzufinden. Auch daraus seien intensive Kontakte und Freundschaften entstanden. „Wir sind zwei Nachbardörfer an der Werra“, beschreibt Helmut Schmidt die Normalität. „Und wir haben beide eine neue Zeitrechnung, nämlich vor der Wende und nach der Wende“, unterstreicht Helga Gogler. Auch die Dialekte seien fast gleich. Nur bei der Bezeichnung der Rohwurst gibt es Unterschiede: Im hessischen Herleshausen ist es die Ahle Wurscht und im thüringischen Lauchröden die Knackwurst.

 

Eine Gruppe junger Menschen, die in Eichstätt Journalistik studieren, hat in diesem Jahr eine Woche lang in Herleshausen und Lauchröden recherchiert. Diese Geschichten kann man unter http://einsteins.ku.de/2019/30-jahre-sieben-geschichten/  nachlesen.