Hippie unter Stasi-Beobachtung

Auf einem Holztisch direkt am Kolonnenweg und in Sichtweite der Reste der Görsdorfer Mauer im Landkreis Sonneberg öffnet Horst Müller einen vollen Aktenordner. Es sind die kompletten Kopien seiner Stasiakte, die er vor einigen Jahren in Suhl eingesehen hat. „Ich habe lang überlegt, ob ich das machen sollte. Die Vorstellung, dass einer meiner Kumpels, mit denen ich meine Jugend verbracht habe, ein Inoffizieller Mitarbeiter (IM) gewesen sein könnte, hätte ich schwer ertragen“, erklärt er seine Bedenken. Zum Glück war das nicht der Fall.

 

Horst Müller, Jahrgang 1949, lebte 27 Jahre im Sperrgebiet in Görsdorf in Thüringen etwa 300 Meter von der innerdeutschen Grenze entfernt. Somit lag Görsdorf gleichzeitig Sperrgebiet und im 500 Meter breiten Schutzstreifen. 1981 wird eine etwa 3,5 Meter hohe Betonmauer, die vor allem als Sichtblende dienen sollte, gebaut – die Görsdorfer Mauer. Von seiner Kindheit erzählt er nicht viel: „Uns ging es als Kinder in der DDR nicht schlecht.“ Der alltägliche Schulweg zu Fuß ins zwei Kilometer entfernte Truckendorf war eher Abenteuer als Last. „Wir waren unter ständiger Beobachtung der DDR-GRenztruppen und in Sichtweite der Amerikaner, die auf westlicher Seite patrouillierten.“  Von seiner Jugend erzählt er lebendiger. „Ich hatte lange Haare. Es war die Hippie-Zeit und da wollten wir doch auch mitmachen.“ Er erzählt, dass er von der Verwandtschaft bunte Weststoffe bekam und seine Mutter ihm daraus modische Kleidungsstücke nähte. Er genoss das Leben, besuchte regelmäßig Tanzveranstaltungen, trank gerne Alkohol und war in der Schule und in der Ausbildung zum Schmied nicht besonders gewissenhaft, so seine eigenen Erzählungen. Vielleicht wäre das in einem anderen kleinen Dorf in der ehemaligen DDR kaum zur Kenntnis genommen worden, aber die Bewohner im Sperrgebiet standen unter strenger Beobachtung.

 

Den ersten Konflikt mit dem Staat hatte er 1967 als zwei ehemalige Schulkollegen in den Westen fliehen wollten. Sie kannten sich direkt an der Grenze nicht so gut aus und baten ihn um Hilfe. Er sollte das Moped bekommen, das sie zurücklassen wollten. Aber er wollte vor allem den Jugendlichen helfen.  „Ich sollte mitgehen, aber das wollte ich nicht. Ich hatte doch meine Kumpels hier.“ Bevor es losging wurden die beiden Flüchtlinge erwischt und die Spur führte auch zu Horst Müller. Es folgten zehn Monate Gefängnis wegen Fluchthilfe.  

 

„In die Sperrzone kam keiner ohne Kontrolle rein“, beschreibt er die Situation. „Da gab es einen Schlagbaum und ein Kontrollhäuschen.“ Der Schlagbaum wurde nur nach Kontrolle der Papiere geöffnet. Bewohner der Sperrzone hatten einen Eintrag im Pass, andere mussten einen Passierschein vorlegen. Diesen gab es nur für diejenigen, die Verwandtschaft im Sperrbezirk hatten oder die beruflich dort zu tun hatten – „aber nur für zuverlässige Menschen.“ Müller erzählt von Fußballspielern, die plötzlich nicht mehr zu den Spielen durften, da diese im Sperrgebiet stattfanden. „Man durfte auch immer nur in sein eigenes Sperrgebiet und nicht in das benachbarte“, erklärt er.

 

Müller ging als Jugendlicher viel auf Tanzveranstaltungen, allerdings „mussten wir immer bis elf Uhr zurücksein. Aber da war es doch oft am Schönsten.“  Er erzählt Geschichten, wie sie versuchten, diese Regel zu umgehen und freut sich noch heute darüber, dass es manchmal geklappt hat. Bei einem Wirt haben sie die Uhr verstellt, so dass dieser sie nicht aus Pflichtbewusstsein nach Hause schickte. Manchmal schlichen sie sich an den Kontrollpunkten vorbei, manchmal waren die Volkpolizisten gnädig und ließen sie nachts einfach durch. Aber es sei auch vorgekommen, dass die Polizei aus Schalkau gerufen wurde und sie dort verhört wurden.

 

Jahrzehnte später liest Müller seine Stasiakte und erfährt, wie genau er tatsächlich beobachtet wurde. Es sind alle Verhörprotokolle zu seiner „Fluchthilfe“ gesammelt. Danach gab es regelmäßig Notizen und Aussagen von Inoffiziellen Mitarbeitern. „Er ist in seinem Auftreten prowestlich eingestellt. Besonders stark ist ausgeprägt, dass er sich viel, d.h. nur Westmusik und Westfernsehen anhört und ansieht.“ Müller schwärmt: „Creedence Clearwater Revival war meine Lieblingsband. Wir haben viele Tonbandaufnahmen von der Musik aus dem Westradio gemacht.“ In der Stasiakte heißt es weiter: „Zu seinem charakterlichen Auftreten wäre noch zu sagen, dass er oft trinkt und lange Haare trägt.“  Weiter wird erwähnt, dass er oft mit seinem Moped zum Tanz fährt und die Bekanntschaften mit Mädchen wechselt. „Stimmt“, sagt Müller. „Ich hatte viele Freundinnen.“ Später wird in den Akten sogar erwähnt, wann er mit welcher Freundin Schluss macht. Aus den Unterlagen geht hervor, dass Stasimitarbeiter auch mit dem damaligen Bürgermeister über Horst Müller sprachen. „Er tritt nach wie vor überheblich und zum Teil auch frech in Erscheinung.“ Und auch hier sind wieder die Tanzveranstaltungen außerhalb des Sperrgebietes Thema. „Bei uns war ja nichts los“, so seine Bemerkung. In den Gesprächen rund um die Musterung für die NVA ist protokolliert: „Die Grundeinstellung ist negativ. Die Verhältnisse in Westdeutschland werden verherrlicht.“ Er wird sogar zitiert: „… wenn wir erst drüben wieder ein Bier trinken.“

„Im Grunde ist alles belanglos“, kommentiert Horst Müller die Akte. Seine Kumpels haben zu ihm gestanden, aber bei manchen, die über mich ausgesagt haben, habe ich mich schon gewundert.“ 1976 verließ er das Sperrgebiet, da er heiratete. Dann benötigte er selbst einen Passierschein, um seine Eltern zu besuchen. „Als Besucher des Sperrgebietes durfte man nur auf kürzestem Besuch zu seinen Verwandten und zurück. Aber ich kannte mich ja hier gut aus und ging als Besucher regelmäßig in die Pilze.“