Landkarten waren tabu

 

Landkarten interessierten Ralf Kirchner schon immer. Eines Tages zeichnete er als 16-Jähriger im Wehrunterricht (das war in der DDR verpflichtender Unterricht für alle Jungs, die als wehrtauglich galten, also mit 18 Jahren zur Nationalen Volksarmee sollten) Karten von seiner Umgebung. Der Ausbilder war entsetzt: „Grafische Darstellungen von der Grenze sind verboten.“ Das war im Frühjahr 1989 und Kirchner, der wenige Kilometern von der Grenze entfernt im Landkreis Sonneberg aufgewachsen ist, wird das erste Mal bewusst, dass Grenze etwas Verbotenes ist. „Da fing ich an, mir Gedanken zu machen.“

 

Kirchner wurde später Vermessungsingenieur und beschäftigte sich intensiv mit Landkarten. Er berichtet, dass 1973 die Grenze neu vermessen wurde. Soldaten hätten dafür den Zaun geöffnet, so dass die Vermesser ihre Arbeit machen konnten. „Die militärischen Karten in der DDR waren sehr genau, aber sie waren streng geheim.“ Auf den normalen Karten, die der Bevölkerung zugänglich waren, waren die Grenze, das Sperrgebiet und die Bundesrepublik Deutschland nicht eingezeichnet. Auch wurden diese Karten verzerrt und gefälscht. „Statt Radaranlage stand vielleicht Kläranlage in der Karte“, erklärt er.

 

Kirchner hat sich als Jugendlicher mit alten Landkarten beschäftigt, die es zu Hause gab. „Die wurden gehütet, weil man sie eigentlich hätte abgeben müssen.“ Aber so hatte Kirchner eine Vorstellung vom Grenzverlauf, ohne diesen jemals gesehen zu haben.

 

Heute arbeitet der 46-Jährige als Naturpark- und Höhlenführer im Thüringer Schiefergebirge. „Da ich schon immer naturverbunden war und mich für Geologie und Geographie interessierte, ist das genau das Richtige.“ Die ehemalige Grenze ist ein Thema von vielen bei seinen Führungen in der Region. Im Moment macht er das noch ehrenamltich und nebenberuflich, aber sein Wunsch ist es, als Gebietsbetreuer „Grünes Band“ für die Stiftung Naturschutz Thüringen zu arbeiten.

 

„Die Grenze war für uns so normal und einfach Alltag“, versucht er zu beschreiben, wie er es als Kind erlebt hat. „Mein Opa hat mir vom Küchenfenster aus Kloster Banz und Vierzehnheiligen gezeigt.“ Dort hatte man einen ähnlichen Blick wie vom „Generalsblick“ auf dem Isaak. Dieser über 500 Meter hohe Höhenzug nahe der ehemaligen Grenze beim bayrischen Meilschnitz war zu DDR-Zeiten absolutes Sperrgebiet. „Hier wurde die Grenze als Modellgrenze ausgebaut. Man wollte zeigen, was möglich ist und wie man die Grenze noch sicherer machen könnte.“ Von oben konnte man sowohl die DDR-Grenzanlagen als auch das grenznahe Gebiet überschauen. Kirchner erklärt, dass es hier ein gestaffeltes System mit zwei Zäunen, Kolonnenwegen, Hundestaffel und Sperrgräben gab. Ganz in der Nähe gab es eine große Radarstation der Russen. „Von dort aus wurde der Flugverkehr über Westdeutschland beobachtet und gemeldet.“ Die Region sei deshalb für die Grenzsicherung besonders wichtig gewesen, denn hier konnte man die militärische Sicherung der DDR-Grenzanlagen demonstrieren. Aufgrund vieler Besuche hochrangiger Militärangehöriger hat sich der Name „Generalsblick“ geprägt und erhalten.

 

Noch eine Besonderheit gab es in der Region: 1972 wurde die Stadt Sonneberg und andere Gemeinden in der Nähe aus wirtschaftlichen Gründen aus dem Fünf-Kilometer-Sperrgebiet herausgenommen. „Wir konnten bis auf 900 Meter an die Grenze heran und zwar bis zu der heutigen Bundesstraße 89.  Direkt neben der Straße standen dann in regelmäßigen Abständen gelbe Schilder „Betreten und Befahren verboten.“ Wir sind täglich daran vorbei gefahren und es war normal“, erinnert er sich.