Von einem verschwundenen Ort und einer starken Dorfgemeinschaft

Mupperg mit seinen etwa 540 Einwohnern ist ein Ort, an dem ich Tage verweilen könnte und die Geschichten würde nicht ausgehen. Schon allein die Kirche mitten in dem thüringischen Ort mit seinem barocken, schiefergedeckten Zwiebeltürmchen zieht die Blicke auf sich. Innen faszinieren die dreistöckigen Emporen mit der farbenfrohen barocken Bemalung und dem überlebensgroßen Mose als Kanzelträger. Sie zeigt, wie bedeutend das Kirchspiel, zu dem heute vier Dörfer gehören, einst war. Auch das etwa zwei Kilometer entfernte Fürth am Berg in Bayern gehörte bis Mitte der siebziger Jahre zum gleichen Kirchspiel. Dann gab die Thüringische Kirche Fürth am Berg an die Bayerische Landeskirche ab. „Das hätte man niemals machen dürfen“, sagt Walter Friedrich während einer kleinen privaten Kirchenführung, zu der ich zufällig dazustoße. „Es gibt viele historische Beziehungen zu Fürth am Berg. Außerdem fehlen uns die Gemeindemitglieder“, argumentiert der Ortschronist und Kantor.

 

Walter Friedrich kennt „seine“ Kirche in- und auswendig. Sein Vater und sein Bruder waren Malermeister und kümmerten sich während der DDR-Zeit um die Restaurierung der Kirche. „Die Kirche war hier zu DDR-Zeiten noch viel aktiver als jetzt“, bemerkt Eva-Maria Schwanenberg, die mir meine Unterkunft, ein Pilgerzimmer im Pfarrhaus, zeigt. „Wir sind eine kleine Gruppe von Aktiven aus Mupperg und den umliegenden Dörfern, die sich um das Gemeindeleben kümmern.“ Aber es scheint zu funktionieren: Die Kirche ist immer offen, im Pfarrgarten ist ein Arboretum angelegt, die Anlagen sind gepflegt. Da es im Ort keinen Pfarrer mehr gibt, wohnt eine afghanische Flüchtlingsfamilie im Pfarrhaus. Der Vater kümmert sich um die Außenanlagen der Kirche, die kleine Tochter singt deutsche Kindergartenlieder, während sie durch das Treppenhaus hüpft. Die beiden größeren Kinder besuchen das Gymnasium in Sonneberg. „Es klappt gut und wir sind begeistert von der Familie, die seit 2015 bei uns wohnt.“

 

Eigentlich ist das Verschwinden des Ortes Liebau in unmittelbarer Nachbarschaft zu Mupperg mein Thema des Tages. An dem Gedenkstein für den ehemaligen Ort treffe ich mich mit André Maslo von der ökologischen Bildungsstätte Oberfranken in Mitwitz. Der promovierte Sprach- und Kulturwissenschaftler arbeitet jetzt als Naturpädagoge und Geschäftsführer in der Bildungsstätte. Ein Schwerpunktthema ist für ihn das Grüne Band. „Hier ist die Geschichte besonders greifbar“, erklärt er, warum er diesen Treffpunkt für ein Interview vorgeschlagen hat. Und tatsächlich sitzen wir in Thüringen und sind von drei Seiten von Bayern umgeben. Thüringen ragte wie ein schmaler Sack nach Bayern hinein. „Der Grenzverlauf war schwer zu bewachen“, erklärt Maslo. Also machte man den Sack einfach am oberen Ende dicht. Aber Liebau lag am Boden des Sackes. Das Dorf erlebte eine wechselvolle Geschichte bis es am 30. Juni 1975 dem Erdboden gleichgemacht wurde. Heute ist es ein idyllischer Ort. Man kann die Blicke über sanfte Hügel in alle Richtungen schweifen lassen, es erinnert nichts mehr an Grenze.

 

Das Gespräch mit André Maslo lasse ich von Liebau abschweifen und diskutiere mit ihm andere, ebenso interessante Themen, wie zum Beispiel Gründe für die Politikverdrossenheit vieler Menschen in den östlichen Bundesländern. Ich bekomme spannende Einsichten. Ich erfahre viel, aber viel zu wenig über Liebau.

 

Später in meiner Pilgerunterkunft stoße ich auf die Ortschronik und lese sie fasziniert. Und dann treffe ich zufällig den Verfasser Walter Friedrich in der Kirche. Leider hat er an diesem Abend keine Zeit für ein Gespräch. „Ich würde Ihnen alles so erzählen, wie es in dem Buch steht, denn so habe ich es erlebt“, sagt der 77-Jährige. Und so erzähle ich jetzt die Kurzfassung der mir angelesenen Geschichte von Liebau:

 

 

 

Liebau gehörte auch zum Kirchspiel Mupperg. Es gab also enge Verbindungen, Freundschaften und Verwandtschaft zwischen den Dörfern. Da Liebau so ungünstig im Sperrbezirk lag, gab es 1952 Verhandlungen zwischen Russen und Amerikanern über einen eventuellen Gebietstausch. Tagelang war nicht klar, ob Liebau nun zu Bayern oder zu Thüringen gehören soll. Die Verhandlungen scheiterten und Liebau blieb Thüringisch. Liebauer hatten Angst, dass sie evakuiert werden sollten, so wie es mit vielen grenznahen Orten passierte. Ihr Bürgermeister traf mit der Landrätin von Sonneberg die Abmachung, dass sie ihn informiere, wenn die Ortschaft evakuiert werden soll. Sie hielt ihr Versprechen und informierte den Bürgermeister. Dieser informierte die Einwohner. Das ganze Dorf floh bis auf wenige Ausnahmen noch in derselben Nacht mit Vieh sowie Hab und Gut nach Fürth am Berg in Bayern. Die Grenzpolizei schaute tatenlos zu. Danach wurde das Dorf neu besiedelt. Es kamen Nordthüringer, Sachsen und Sachsen-Anhalter. Wieder flohen viele Menschen in den Westen. Es folgte eine zweite Besiedlung mit Menschen, die aus DDR-Sicht zuverlässiger waren. 1975 wurde das Dorf dem Erdboden gleichgemacht. Zuvor hat man die letzten Bewohner in die benachbarten Dörfer umgesiedelt. “Ich sehe und höre heute noch die Räumpanzer durch unser Dorf Richtung Liebau fahren“, schreibt der Studienrat Walter Friedrich in seinem Buch „Mein Leben an der Grenze“. Am 7. Juli feiert Mupperg anlässlich des 950. Ortsjubiläums einen Festgottesdienst auf dem ehemaligen Dorfplatz von Liebau.